Science- Was ist das UTS? (Teil 3, Kognitive, emotionale, soziale Aspekte)
- Annelie Neubauer
- 24. Okt. 2021
- 8 Min. Lesezeit
Disclaimer: Meiner persönlichen Einschätzung nach ist das neurokognitive Profil des UTS nichts, womit sich jede einzelne Betroffene unbedingt auseinandersetzen muss oder sollte. Alle diese Fakten zum ersten Mal zu hören, war seinerzeit jedenfalls alles andere als einfach für mich selbst, allerdings kann man bei der Lektüre eventuell auch die ein oder andere eigene Schwäche besser verstehen, vielleicht gezielt an ihr arbeiten, vielleicht Nachsicht lernen- ohne natürlich Entschuldigungen für irgendetwas zu suchen. Falls sich das sinnvoll anhört, nur zu.
Nein, in praktisch allen Fällen führt das UTS nicht zu einer geistigen Behinderung (die eine mögliche Ausnahme sind hier leider Personen mit einem nicht inaktivierten Ringchromosom X, aber auch ein Ringchromosom X muss keinesfalls zwangsläufig eine geistige Einschränkung zur Folge haben). Ja, es gibt dennoch ein typisches neurokognitives Profil des UTS, das sich bei vielen, aber natürlich nicht allen Betroffenen in unterschiedlicher Ausprägung beobachten lässt.
Was ist also "typisch UTS"?- Zunächst ein sogenannter "V-P-split." Bei einem normalen Gesamt- IQ ist dabei de.r "verbal IQ", also der sprachliche IQ, deutlich höher als der "performance IQ" Näherungsweise könnte man Letzteren wohl als mathematischen IQ beschreiben. (Ein IQ von 100 ist dabei durchschnittlich, alles über 70 entspricht (vermutlich) keiner geistigen Behinderung, alles über 130 gilt als hochbegabt). Dieser V-P- Split ist nicht nur charakteristisch für das UTS, sondern ganz Allgemein für eine "Non- Verbal-Learning- Disorder". Die NVLD wiederum ist eine Entwicklungsstörung, am ehesten vergleichbar mit einer Autismus- Spektrums-Störung oder AD(H)S darin, dass die Betroffenen bezüglich ihrer Stärken und Schwächen auf einem weiten Spektrum angesiedelt sind (bei der ASD steckt das ja schon im Namen drin). Mit dabei sind viele Menschen, die mit Recht darauf bestehen, "anders", aber in keinster Weise "eingeschränkt" zu sein- wie auch einige, die im Alltag mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Und natürlich Menschen mit bestimmten genetischen Mutationen, welche ein bestimmtes neurokognitives Profil bedingen können, das einer gewissen Entwicklungsstörung ähnelt. Das Down- Syndrom, das Rett Syndrom oder das Smith- Lemli- Opitz Syndrom führen oft zur Diagnose einer Autismus Spektrums Störung (Autism Spectrum Disorder, ASD). Das Williams- Syndrom, das Fragile X- Syndrom oder das Di- George Syndrom führen oft zur Diagnose einer NVLD. Ganz wohl ist mir nicht dabei, das UTS in dieser Gruppe mit aufzuzählen- denn tatsächlich ist es die einzige der hier angeführten Diagnosen, die keine geistige Einschränkung bedingt. Doch zweifelsohne kann das UTS in vielen Fällen mit einer NVLD einhergehen (auch die Diagnose einer ASD ist häufiger).
Was also macht die NVLD aus? Wenn man sich, wie in wissenschaftlichen Publikationen leider üblich, auf Schwächen fokussiert, so findet man diese vor allem im Abschätzen von Zeiträumen und Abständen. Und es ist überraschend, wie viele der beim UTS bekannten Probleme diese simple Überlegung erklärt. Schwierigkeiten beim Fahren, da räumliches Orientierungsvermögen fehlt, Schwächen in der Grob- und Feinmotorik, Koordinationsschwierigkeiten, Probleme mit dem Multitasking, oder ganz generell mit der schnellen Verarbeitung von Reizen in komplexeren Aufgaben, Schwächen in der Einordnung von Gesichtsausdrücken und anderen nicht- sprachlichen Kommunikationsformen, eine schlampigere Handschrift, ein schwaches Kurzzeitgedächtnis gerade für die Position von Objekten im Raum.
Oft spricht man von "Problemen mit der Mathematik", von einem "fehlenden abstrakten Denkvermögen". Das wiederum finde ich persönlich nur sehr eingeschränkt richtig. Sicherlich kann das schwächere räumliche Vorstellungsvermögen gerade in der Geometrie Probleme bereiten, aber das mathematisch- logische Schlussfolgern, das Arbeiten mit mathematischen Gleichungen und gerade das Verständnis mathematischer Zusammenhänge anhand von Sprache, scheint bei uns im Allgemeinen nicht schlechter zu sein als bei anderen. Als jemand, der in diesen Bereichen einen gewissen Vorteil gegenüber vielen Menschen hat, kann ich nur betonen, dass gerade dieses mathematisch- logische Schlussfolgern die allermeisten Schüler im Matheunterricht vor große Herausforderungen stellt. Unsere leichten Nachteile, die wir möglicherweise gegenüber anderen haben, liegen meiner Meinung nach in anderen Bereichen der Mathematik begründet. Wie viel räumliches Vorstellungsvermögen, wie viel Auswendiglernen und logisches Denken im Matheunterricht letztendlich tatsächlich verlangt werden, ist außerdem natürlich sehr unterschiedlich. Verallgemeinern sollte man sowieso nicht, denn es gibt genügend Programmiererinnen oder Architektinnen mit dem UTS, und die Mathematik wird von den Mädchen auch häufig genug als Lieblingsfach angegeben. Alle von uns als "schlecht in Mathe" zu bezeichnen, geht somit schlicht und ergreifend an der Wahrheit vorbei.
Absolut jeder, der sich mit den möglichen Schwächen von Frauen mit dem UTS auseinandersetzt, sollte eigentlich genauso schon einmal etwas von bestimmten Stärken gehört haben, die ebenfalls häufig mit einer NVLD einhergehen. (Selbstverständlich ist das leider nicht.) Zunächst einmal wäre hier ein oftmals gutes Sprachgefühl anzuführen. Der sprachliche IQ von uns als Gruppe ist deutlich überdurchschnittlich (was sich im kreativen Schreiben, aber auch im Erlernen von Fremdsprachen zeigen kann, und auch die Beobachtung, dass das Langzeitgedächtnis für bestimmte Formulierungen, Gedichte, Liedtexte überdurchschnittlich gut ist, hängt in meiner Vorstellung damit zusammen). Außerdem weiß ich kaum mehr, wie oft ich schon gehört habe, dass viele von uns mit dem UTS eine auffallende Willensstärke besitzen. Und die ist noch so ein Charakterzug, der nicht an sich "positiv" oder "negativ" sein muss, Beschreibungen dieses Persönlichkeitsmerkmals reichen von "sich selbst im Weg stehend", "trotzig" oder "aufsässig" bis "ehrgeizig" und "zielstrebig". Man fixiert sich anscheinend leicht auf bestimmte Dinge, und manchmal heißt das, auf der Autofahrt das dritte Mal innerhalb von fünf Minuten danach fragen, wann man denn endlich da ist, manchmal heißt es aber auch stundenlang konzentriert an einem Projekt zu arbeiten, das einen fasziniert. Auch AD(H)S Diagnosen sind bei Menschen mit dem UTS häufiger als in der Allgemeinbevölkerung- denn die AD(H)S geht genau mit diesen Schwierigkeiten in der Regulation der Aufmerksamkeit einher, nicht unbedingt mit fehlender Aufmerksamkeit, obwohl die anderen in bestimmten Situationen eher mal auffällt. Für Betroffene selbst steht vielleicht sogar das starke innere Fokussieren auf eine bestimmte Sache (ein Projekt, ein Buch, eine philosophische Überlegung, eine Emotion...) im Vordergrund, gepaart mit einer gewissen inneren Unruhe, gerade, wenn man von etwas abgelenkt wird, womit man sich eigentlich in diesem Moment beschäftigen wollte. Oder generell, wann immer sich etwas im eigenen Leben, insbesondere unerwartet, verändert. Im Englischen spricht man oftmals von "obsessiveness"- eine echte "obsessive compulsive disorder" OCD, oder Zwangsstörung, ist jedoch meines Wissens unter Menschen mit dem UTS nicht stärker vertreten als in der Allgemeinbevölkerung. Genauso hängt eine gewisse Tendenz zur Ängstlichkeit vielleicht tatsächlich mit dem UTS zusammen, nur in seltenen Fällen liegt jedoch eine "anxiety disorder" beziehungsweise Angststörung vor.
Und das bringt uns nahtlos zum entscheidenden Punkt. Bis jetzt habe ich, nach bestem Wissen und Gewissen, mögliche Merkmale des UTS beschrieben, die so oder ähnlich oft auch bei kognitiver Testung auffallen. Von einer gewissen Subjektivität meinerseits ist auszugehen, die Lebenswirklichkeiten verschiedener Betroffener unterscheiden sich stark voneinander.
Aber, einmal abgesehen davon, welche Konsequenzen für unseren Alltag ziehen wir aus all diesen Informationen? Bezüglich Schule, fahren lernen, sozialen Kontakten? Müssen wir alles diagnostizieren, und was ist behandlungsbedürftig?
Diese Frage ist so vielschichtig, dass ich hier nur kurz auf einige Punkte eingehen, und mich sicherlich an anderer Stelle mit vielen Thematiken tiefgreifender beschäftigen werde.
Bei sehr jungen Kindern mit dem UTS läuft die Sprachentwicklung oft etwas schneller ab als erwartet, die motorische Entwicklung kann dagegen etwas langsamer sein, oftmals jedoch innerhalb des Rahmens dessen, was als "normal" angesehen wird. Wenn hier deutliche Verzögerungen auftreten sollten, können bestimmte Therapien hilfreich sein.
Was die Beschulung angeht, sollten keine Entscheidungen nur aufgrund der Diagnose UTS oder der Körpergröße getroffen werden. Tatsächlich erreichen wir mit dem UTS als Gruppe überdurchschnittliche Schulabschlüsse (und haben keine erhöhte Arbeitslosenquote) (siehe High Levels of Education and Employment Among Women with Turner Syndrome (nih.gov)). Man denke wieder an gute sprachliche Fähigkeiten, Ehrgeiz und Durchhaltevermögen, denn gerade Letzteres ("Grit") ist die wichtigste Determinante für schulischen Erfolg. Dass man "anders lernt" heißt also noch lange nicht, dass man nicht denselben Schulstoff ebenso gut und schnell bewältigen kann wie andere, ohne besondere Unterstützung zu benötigen. Manche Dinge können schwieriger sein, dafür andere wiederum einfacher (dasselbe gilt übrigens für Menschen mit einer ASD oder AD(H)S). Als Betroffene oder als Elternteil hat man natürlich eine Reihe von Möglichkeiten, auf Schwächen zu reagieren, je nachdem, wie stark sie ausgeprägt sind- sich etwas mehr Zeit nehmen, um der Tochter etwas beizubringen, beziehungsweise sich etwas anzueignen, verschiedene Therapien, "sonderpädagogischer Förderbedarf" und Beschulung an einer Sonderschule. Letzteres ist jedoch für uns mit dem UTS nicht häufiger angezeigt als in der Allgemeinbevölkerung.
An manchen Stellen muss man eventuell etwas Geduld mit sich selber lernen, zum Beispiel auch in der Fahrschule, denn egal, ob andere Menschen in verschiedenen Bereichen genauso ihre Schwierigkeiten haben- ein Stück weit emotional belastender kann es schon sein, Stärken und Schwächen zu haben, die deutlich von der Norm abweichen. Ein gewisses Gefühl des "Andersseins" wird dabei oft schon aus der Zeit vor der Diagnose beschrieben, ich persönlich schließe mich da an, und glaube nicht, dass dieses "Anderssein" nur im Rückblick überbetont, oder von nur wenigen Betroffenen kommuniziert wird, während andere es nicht in dem Maße erleben. Für mich ist es in vielen Fällen ein Teil des UTS, aber das ist tatsächlich Glaubenssache. Genauso scheint die Diagnose an sich nicht selten das Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen (wobei man daran denken sollte, dass man nach der Diagnose immer noch genau derselbe Mensch ist wie zuvor. Klingt irgendwie logisch, anscheinend ist es das jedoch nicht immer und für jede). Was jedoch für die Mehrheit von uns definitiv am schwierigsten zu bewältigen ist, das ist die Unfruchtbarkeit. Anschaulich illustriert wird dies etwa dadurch, dass wir ähnliche Raten von Depressionen haben, wie andere Frauen mit Unfruchbarkeit auch (The prevalence of depression symptoms among infertile women: a systematic review and meta-analysis | Fertility Research and Practice | Full Text (biomedcentral.com), Current and lifetime psychiatric illness in women with Turner syndrome - PubMed (nih.gov)) . Alle anderen Aspekte des UTS (niedrige Östrogenlevel, Arzttermine, eventuelle körperliche Einschränkungen) verursachen wohl nicht (häufig) Depressionen, dieses eine Symptom des UTS dagegen schon. Und mit der Unfruchtbarkeit sind wir ja nicht alleine. Während gefühltes Anderssein für uns häufig ist- genauso wie Hänseleien im Grundschulalter aufgrund einer geringeren Körpergröße-, ist auch wirkliche soziale Isolation nicht unbedingt "typisch UTS", aber in einigen Fällen durchaus ein Problem.
Und nein, nicht jedes Problem braucht immer und unbedingt eine Diagnose und Behandlung. Häufig sagt man: "Psychische Problematiken müssen dann behandelt werden, wenn sie die Lebensqualität des betroffenen Individuums beeinträchtigen." An diesem Punkt werden viele Menschen nicht zustimmen- ich behaupte jedoch, auch bei einer NVLD ist dieses Kriterium nicht immer zwangsläufig erfüllt. Vermutlich könnte ich persönlich schon mit der NVLD diagnostiziert werden, sehe momentan jedoch keine Veranlassung zu einer psychologischen Evaluation- daher erlaube ich mir hier einmal diese- subjektive- Aussage.
Auch ich habe ja im Verlauf des Textes von "Entwicklungsstörungen" gesprochen, manchmal werden im Zusammenhang mit dem UTS "leichte kognitive Beeinträchtigungen" erwähnt (wobei dieser Ausdruck allermindestens extrem missverständlich ist.) Es gibt jedoch einen Begriff, der mir persönlich deutlich besser gefällt: Neurodivergenz. Man ist also "anders", aber dadurch noch lange nicht "beeinträchtigt" oder "behandlungsbedürftig", in keinster Weise "schlechter" als andere. Das schreibe ich ausdrücklich nicht aufgrund von "political correctness", sondern aus Überzeugung. Und wieder verweise ich auf Menschen mit der ASD oder AD(H)S, von denen viele solche Überlegungen sehr gut nachvollziehen können.
Auch, wenn Du diesen Text hier liest, und einige Merkmale an Dir wiedererkennst, die Du bisher nie mit dem UTS in Zusammenhang gebracht hast, "bist" Du keinesfalls das UTS. Neurokognitives Profil hin oder her. Wenn überhaupt, sind die Unterschiede zwischen uns noch größer als zwischen verschiedenen neurotypischen Menschen (und welchen Anteil der Frauen mit UTS würde man überhaupt als "neurodivergent" bezeichnen? Selbst darüber lässt sich streiten). Ebenso muss man keine Schwäche als gegeben hinnehmen, nur, weil man das UTS hat. Mit genügend Übung kann man sich in praktisch jedem Bereich verbessern, genau wie andere Menschen auch- konstruktiv kann man das neurokognitive Profil des UTS also als eine Möglichkeit begreifen, eigene Schwächen zu erkennen und an diesen zu arbeiten. Was für eine Person mit dem UTS gilt, muss dabei noch lange nicht für eine andere Betroffene stimmen, das kann man kaum oft genug betonen.
Zusammenfassend kann man jedoch sagen: Viele von uns haben ganz einfach bestimmte Stärken und Schwächen, wie jeder andere Mensch auch, aber in anderen Bereichen. Manchmal etwas vorhersehbarer- aber nicht unbedingt.
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