Geschichten zwischen zwei Welten
- Annelie Neubauer
- 26. Apr. 2022
- 14 Min. Lesezeit
“We as human beings are far more alike than we are different. Alike in knowing that our days are numbered, and in trying to make them count. Alike in the most fundamental fact that we desire nothing more than to feel wanted and needed by others. That we are made for giving, not taking. So why are we stressing our differences- and not all the ways in which we are the same?” A.N.
„Inklusion in der Schule“, Oder: „Was nicht passend ist, wird passend gemacht“
Die Drittklässlerin will ihren Spielkameraden nicht verlieren, der es sich jedoch in den Kopf gesetzt hat, sich mit dem nächsten Neuen in der Klasse zu befreunden. Es folgt ein eigentlich harmloser Satz: „Können wir nicht erst einmal alleine spielen, und beobachten, wie der Neue so ist?“ Für den Moment stimmt der Freund zu. Der Neue hängt fünf Minuten später im Klassenraum über seinem Tisch, den Kopf im Arm vergraben, und weint. Das ist der Beginn eines zwei Jahre andauernden, offenen Hasses. Die Lehrerin kommt, hält einen langen und ernsthaften Vortrag. Der eine Satz, der hängen bleibt und nachhallt, ist: „Wir schließen hier niemanden aus.“
Die Drittklässlerin sieht, wie ein Junge mit geistiger Einschränkung auf ihre Schwester aus der Ersten zurennt, und sie küssen will. Es ist so untypisch für ihre Schwester, sich nicht einmal zu verteidigen. Vielleicht begreift sie nicht, was gerade passiert- verständlicherweise hat sie auch Hemmungen, körperliche Gewalt einzusetzen. Die Drittklässlerin nimmt den erstbesten ungefährlichen Gegenstand, den sie zu fassen bekommt, einen Softball, und wirft diesen dem anrennenden Jungen mit Schwung direkt ins Gesicht. Wieder fließen Tränen, man hört Geschrei. Wieder eine Zurechtweisung, diesmal von dem FSJ- ler (also einem 18 oder 19- Jährigen), der die Freizeitbeschäftigung beaufsichtigt. Sie kneift stumm die Lippen zusammen. Das Wort „Gewalt“ und der Satz „Wie konntest du nur?“ sind gefallen.
Die Viertklässlerin ist wissbegierig, begreift schnell. Doch an ihrer Schule ist der Lernstoff eher noch begrenzter als anderswo. Wenn sie also fertig ist mit ihren Aufgaben, in der Hälfte der Zeit verglichen mit den anderen, und sich langweilt- dann ist die einzige wirkliche Option der Computer im Nebenraum- auf dem es noch mehr Aufgaben genau desselben Niveaus zu lösen gibt. Denn Lernprogramme gibt es auf diesem Computer, aus logischen Gründen, nur bis zur vierten Klasse.
Sie muss sich sehr zurückhalten, um nicht zugleich zu lachen und zu weinen. Und Zurückhaltung, das ist offensichtlich nicht gerade ihre Stärke.
Diese Situationen und viele mehr habe ich erlebt. Live und in Farbe habe ich gesehen, was es bedeuten kann, eine „integrative Grundschule“ (mit Förderschwerpunkt Sehen) zu besuchen. Wie das Leben so spielt, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal meine Diagnose. Der Hauptgrund für die Schulwahl war wohl ganz einfach die günstige Lage der Graf- zu- Bentheim- Schule. Genau genommen umfasst diese „Schule“ ein riesiges Schulgelände mit Spielplätzen, Schulhasen, Hort, Fußballplatz, Sprunggrube, schuleigenem Schwimmbad und vielen Wohnheimen für Schwerst- und Mehrfachbehinderte. Es gab einige Förderschulklassen, sowie die sogenannten S- Klassen. S steht in diesem Fall für „sehend“. Das war auch ungefähr die Hälfte der Schüler dieser S-Klassen, die anderen Schüler hatten mindestens schwere Sehbeeinträchtigungen, häufig dazu auch eine leichte bis moderate kognitive Beeinträchtigung. Und auf dem Schulgelände konnte man in der Mehrzahl die ganz „schweren Fälle“ antreffen. Mittlerweile, wo ich mich etwas mit der Humangenetik auseinandergesetzt habe, bilde ich mir ein, sogar im Rückblick einige der Krankheitsbilder wiederzuerkennen: Usher-Syndrom,Sotos- Syndrom, CHARGE- Syndrome, Fragiles- X- Syndrom, Rett- Syndrom. Taubblinde, geistig Eingeschränkte, Hände- unkoordiniert- schwenkende Mädchen in Rollstühlen. Eigentlich hätte diese Schule ein Musterbeispiel für Inklusion sein müssen. Für die Bedürfnisse der Sehbehinderten war bestens gesorgt, überall waren Blindenstreifen verlegt, Lupen und Vergrößerungsbildschirme waren da, Geld war vorhanden. Die Finanzierung war sogar in dem Maße gut, dass die Schule später grundsaniert wurde, obwohl keine zwingende Notwendigkeit bestand. Man stelle sich Ähnliches an einer typischen deutschen Bildungsanstalt vor! Ab und an wurde auch versucht, uns Grundschüler in die Lebenswelt der Sehbehinderten einzuführen. Wir bekamen die Braille- Schrift (Blindenschrift) erklärt, durften einmal mit verbundenen Augen einen Langstock benutzen oder Brillen aufsetzen, die Sehbehinderungen simulierten. Auch einen Dunkelraum, in dem man versuchen konnte, sich zu orientieren, Muster zu erfühlen, oder blind zu essen hatten wir. Das Lehrpersonal war- größtenteils- gut ausgesucht. Die Klassen waren klein, mit etwa 12 Schülern pro S- Klasse. Alleine das ist schon eine entscheidende Voraussetzung für das Gelingen von Inklusion, die wohl nicht erfüllt werden würde, wenn man Inklusion in Deutschland jemals flächendeckend durchsetzen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde aus der an sich lobenswerten Idee schnell eine Methode zum Geldsparen werden- und das bemitleidenswerte Lehrpersonal könnten dann sehen, wie es möglichst jedem der Schüler gerecht wird. Das Zauberwort lautet „Geld“, und dieses war an der Graf- zu- Bentheim Schule sicherlich zu Genüge vorhanden. Beim Schwimmwettbewerb trugen wir stolz gelbe, in meinem Fall einige Nummern zu große T-Shirts, auf denen in großen blauen Buchstaben das Wort „Inklusion“ prangte. Ja, wir hatten doch eigentlich die bestmöglichen Voraussetzungen. Und doch kommen mir, wenn ich an meine Grundschulzeit zurückdenke, schnell Situationen wie eben die oben Beschriebenen in den Sinn.
Das erste verbreitete Missverständnis ist wohl, dass an einer integrativen Grundschule „jeder so wie er ist akzeptiert wird“. Sogar bei meinen Eltern könnte man spekulieren, dass sie meine Grundschule unter anderem aus der Angst heraus, dass ich aufgrund meiner geringen Körpergröße oder sozialen Unreife ausgegrenzt werden könnte, ausgewählt haben. Die Realität ist jedoch: Nein, akademischer Erfolg wurde an meiner Grundschule tatsächlich nicht gefordert, aufgrund schlechter Schulleistungen wurde tatsächlich niemand ausgegrenzt. Dies traf sogar so sehr zu, dass ich bis heute nicht sicher sagen kann, ob schulische Leistungen für Grundschulkinder an anderen Schulen bereits eine Rolle spielen würden- vermutlich schon. Allerdings wurde dafür eine andere Fähigkeit beim Lehrkörper großgeschrieben: Sozialkompetenz. Wir hielten Sitzkreise ab, in denen jeder einem anderen für irgendetwas zu danken sollte, wir hatten obligatorische gemeinsame christliche Gottesdienste zu jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit. Wir waren umgeben von „Friede- Freude- Eierkuchen“, von oben erwähntem Stuhlkreis bei einer besonders fröhlichen und naiven Lehrerin, bis zu unserem Schulchor, in dem, bei Proben, wie auch bei Auftritten, immer eine taubblinde Frau in der letzten Reihe saß. Soweit ich mich erinnern kann, saß die gesamte Zeit über jemand neben ihr, und schrieb ihr im Lormen- Alphabet etwas in die Handfläche. Die Liedtexte, sicherlich.[1] Gibt es auch ein ein Lormen- Äquivalent für Tonhöhen und Rhythmen? Was bedeuten diese Begriffe überhaupt für eine taubblinde Person? Konnte sie die Musik als Vibrationen in ihrem Körper fühlen? Ich weiß es nicht, aber jedenfalls war die Frau bei fast jeder Probe still anwesend. Kurz vor Weihnachten malten wir aus den S-Klassen für Kinder mit Behinderung, die selbst weder schreiben, noch malen konnten, Weihnachtswünsche auf. Diese wurden dann im Supermarkt Real an einen Weihnachtsbaum gehängt, und Einkäufer konnten, wenn sie wollten, einen davon mitnehmen. Damit erklärten sie sich bereit, das kleine Geschenk zu besorgen, welches sich ein Kind gewünscht hatte. Und bei der Übergabe der Geschenke sahen wir stets viele strahlende Kinderaugen.
So sah also das Leben an unserer Schule aus. Über allem standen in großen Neonbuchstaben die Begriffe „Sozialkompetenz“ und „Inklusion“. Und dazwischen ich, die ihre Freizeit am liebsten alleine mit einem Buch verbrachte. Die noch nie etwas von „political correctness“ gehört hatte, und dieses Konzept sowieso noch nicht verstanden oder aber aus tiefstem Herzen verabscheut hätte. Ich, die ich auch bei meinen Eltern nichts Anderes gelernt hatte, als mich über diese Sitzkreise, Gottesdienste und die „Friede- Freude- Eierkuchen“ Atmosphäre lustig zu machen, und die ich nicht gerade schnell darin war, sozial akzeptiertes von nicht akzeptiertem Verhalten zu unterscheiden. Im Nachhinein kann ich mir kaum mehr vorstellen, wie oft ich aus Sicht meiner Lehrer voll ins Fettnäpfchen getreten bin, und eine bestürzende Empathielosigkeit gegenüber Menschen mit Einschränkungen an den Tag gelegt habe. Soviel auch zu dem Persönlichkeitstyp von Lehrern, die tendenziell in die Sonderpädagogik gehen- empathisch und freundlich, rücksichtsvoll, wenig an akademischem Erfolg interessiert, dafür umso mehr an Sozialkompetenz. (Nichts davon sind an sich schlechte Eigenschaften, keine Frage, aber für einen leistungsstarken Schüler in einer weniger leistungsfähigen Klasse können sie schnell zu schlechten Eigenschaften werden.) Die Gruppendynamiken unter uns waren die einer ganz normalen Gruppe von Grundschülern. Im Nachhinein fällt mir allerdings auf, dass sich die Schüler mit und die ohne Einschränkungen, wenn sie sich frei entscheiden konnten, doch nicht so sehr durchmischten, wie man das wohl gerne gesehen hätte. Das liegt vermutlich in der Natur der Sache. Jedenfalls hatte ich eine kleine Gruppe von Jungen, mit denen ich die Pause verbrachte, und einige Mitschüler, die ich zu Kindergeburtstagen einladen konnte. Wo genau ich in der sozialen Hierarchie stand, kann auch ich im Nachhinein nicht mehr so ganz rekonstruieren, aber ich konnte jedenfalls ganz gut mit der Gesamtsituation umgehen. Das alles änderte sich in der dritten Klasse dramatisch- denn zu meinem Leidwesen wurde der neue, weinerliche Mitschüler schnell zum Mittelpunkt und Anführer unserer Klasse. Das ist jedoch eine andere Geschichte- die sich auch an jeder anderen Grundschule so hätte zutragen können, aber eben genauso bei uns.
Dazu kommt, wie schon angeschnitten, eine permanente akademische Unterforderung. Diese habe ich ein Stück weit auch später am Gymnasium erlebt, aber lange nicht mehr in diesem Ausmaß. Langeweile, verbunden mit fehlender Anerkennung der eigenen Leistungsfähigkeit. Beides ist tödlich für ein an allem interessiertes Mädchen, das sich selbst hauptsächlich anhand seiner intellektuellen Möglichkeiten definiert. Unter anderem hatten wir eine Mitschülerin, die bis in die vierte Klasse mitgeschleift wurde, nur, um dann wieder in die Erste geschickt zu werden, weil sie nichts vom Schulstoff wirklich verstehen konnte. Auch solche Geschichten waren an der Grundschule nicht ungewöhnlich. Gerade mit „Gruppenarbeiten“ hatte ich sogar noch viel später am Gymnasium meine Probleme- obwohl meine Mitschüler da doch einiges mehr zum Endergebnis beitragen konnten.
Irgendwie habe ich es jedenfalls geschafft, genug zu lernen, um nach der vierten Klasse an das Gymnasium wechseln zu können, und dort notenmäßig keine Probleme zu haben. Das ein oder andere hatten die anderen Schüler schon einmal gesehen und gemacht, wovon ich nicht die leiseste Ahnung hatte. Einen kleinen Vorteil hier und da hatten sie also, aber keinen dramatischen Wissensvorsprung. Vielleicht hätte ich Probleme bekommen, wenn ich nicht von Beginn an überdurchschnittlich schulisch leistungsfähig gewesen wäre. Die entscheidende Erkenntnis aus meinem Erlebnis ist allerdings vermutlich: So viel Schulstoff muss man in vier Jahren deutscher Grundschule nicht lernen. Lesen, Schreiben, ein bisschen Rechnen, die ersten englischen Wörter. Heftführung, und der Umgang mit Schere und Kleber. Das haben wir auch noch gerade so auf dem erwarteten Niveau hinbekommen, alles andere, Wortarten, Heimat und Sachkunde, Prokofjews „Peter und der Wolf“, die Hintergründe religiöser Feiertage, und so weiter, ist Zugabe. Man kann sich im Allgemeinen darauf verlassen, dass diese Themen alle am Gymnasium zumindest noch einmal wiederholt werden, oder einfach für die weitere Schullaufbahn nicht so wichtig sind. Bei uns waren es meiner Erinnerung nach vier von zwölf Schülern, die an das Gymnasium gewechselt sind (an normalen Grundschulen kann man mittlerweile von etwa 50% der Schüler ausgehen. Also liegen wir, wenn man nur die typisch entwickelten Schüler betrachtet, damit sogar über dem Mittelwert). Nach allem was ich weiß, haben zwei, vielleicht drei von uns das Abitur erfolgreich abgelegt. Es gab jedoch an unserer Grundschule durchaus auch andere Klassen, in denen man vielleicht einen einzigen Schüler getroffen hätte, der es später auf das Gymnasium geschafft hat. Und auch das Unterrichtsniveau gestaltete sich entsprechend. Natürlich ist mir bewusst, dass Inklusion anderswo auch besser funktionieren kann, als gerade an meiner Grundschule- ich befürchte nur, nicht flächendeckend. Der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man in dieser Diskussion kommen kann, ist wohl, dass echte Inklusion mit extrem hohen Ausgaben einhergeht, und mit viel Fingerspitzengefühl betrieben werden muss, um nicht eine an sich schon schwierige Situation noch zu verkomplizieren. Zu schnell fallen einerseits ohnehin benachteiligte, andererseits aber auch leistungsstarke Schüler hinten herunter, akademisch und sozial, wenn alle Kinder „einfach“ in einer Klasse unterrichtet werden. Zu schnell wird man in einer integrativen Klasse als „schulisch nicht leistungsfähig“ abgestempelt, wenn dies eventuell nicht angemessen ist. So dachte ich, und so denke ich. Denn wir waren trotzt allem Gerede von Gleichheit doch in zwei Gruppen eingeteilt, „Gesund“ und „Behindert“. Wir bekamen unterschiedliche Zeugnisse. Jeder wusste vom anderen, in welche Gruppe er zählte- soweit das für ein neunjähriges Kind Bedeutung hat. Und welche kleinen Probleme ich auch haben mochte, ich gehörte zu den „Gesunden“, ohne Wenn und Aber.
Die andere Seite: Eine Diagnose
Das alles änderte sich erst später ein Stück weit- als ich mit zwölf Jahren meine Diagnose erhielt. Für mich selbst hat das Wort „Behinderung“ heute noch genauso wenig persönliche Bedeutung, wie damals mit zehn Jahren. Und doch wird fraglos über das UTS oft wie über eine Behinderung diskutiert. In geschlossenen Gruppen geht es zum einen oft sehr „politisch korrekt“ zu. Dabei verliert man eventuell etwas den Mut, mit Überzeugung höchstwahrscheinlich korrekte Aussagen zu tätigen (die man ja nicht als sichere Wahrheit hinstellen muss!), etwa „Mädchen mit dem UTS haben im Allgemeinen nicht mehr oder weniger Probleme in der Schule, als jeder andere auch. Nur in anderen Bereichen.“. Andererseits kommentieren Menschen, die persönlich überhaupt nichts mit dem UTS zu tun haben, etwa YouTube Videos oft in einer ungeahnt ignoranten Art und Weise mit Aussagen wie etwa „Ihr tut mir ja so leid, diese Behinderung würde ich nicht haben wollen.“ In selteneren Fällen bringen sie abfällige Kommentare über unser Äußeres, soweit dieses auffällt. Die Darstellung des UTS in einer „Law and Order“- Episode[2] ist zum Beispiel wenig schmeichelhaft. Sie suggeriert, ein erwachsener Mann sei ein Pädophiler, weil er mit einer 18-jährigen Frau mit UTS, die natürlich etwas jünger aussieht, eine romantische Beziehung pflegt. Und natürlich sind da die überforderten Eltern, die eine Flut von Informationen kaum einordnen können, und, verständlicherweise, einfach nur Angst haben. Die Vielzahl an Arztbesuchen erinnert dagegen eher an eine chronische Krankheit. Ebenso, wie man sich fast zwangsläufig Sorgen oder zumindest Gedanken um gesundheitliche Probleme macht, die andere nicht einmal kennen, wie man ob man will oder nicht, einige Informationen zu vielen verschiedenen medizinischen Themen aufschnappt. Auch Menschen, die weit davon entfernt sind, jemals Medizin studieren zu wollen, eignen sich zwangsläufig im Laufe der Zeit nach Arztbesuch über Arztbesuch etwas medizinische Terminologie an, einfach, um sich in Krankenhäusern und Arztpraxen verständlich machen zu können, und von den Halbgöttern in Weiß ernst genommen zu werden. Tendenziell gilt: Was einmal überlebenswichtig werden könnte, merkt man sich ganz gut.[3]
So oder so- hat mich das UTS in jedem Fall dazu gebracht, mich vermehrt über alle möglichen Krankheiten und Behinderungen zu informieren. Ich habe, denke ich, begonnen, die Feinheiten bestimmter Einschränkungen zu verstehen, statt eine Vielzahl von Menschen einfach als „behindert“ abzustempeln, wie das leider so häufig geschieht. „Behinderte“ werden viel zu oft als eine mehr oder weniger homogene Gruppe betrachtet- dabei sind sie dies noch deutlich weniger, als die „normalen“ Menschen. Und zwischen „behindert“ und „nicht eingeschränkt“ existiert ein großer Graubereich. Inspirierend ist es jedoch immer wieder, zu sehen, wie viele Menschen, die es alles andere, als leicht haben, dennoch ihr Leben meistern. Später bin ich dann einigen Facebook Gruppen für das UTS beigetreten. Es braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, welche Menschen in einer solchen Gruppe am häufigsten posten, in Selbsthilfegruppen am aktivsten sind. Die Frauen, die zu kämpfen haben, die von allen möglichen Problemen betroffen sind, welche mit dem UTS zusammenhängen können, und die zusätzlich häufig noch einen Haufen anderer, nicht strenggenommen vom UTS verursachter Probleme haben. Man hört daneben viel von Eltern, die mit ihrem pflegebedürftigen Kind etwas überfordert sind. Posts über Kinder mit einer „globalen Entwicklungsverzögerung“, die statistisch gesehen praktisch nie im UTS begründet sein sollte, sind nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig zu lesen. Auch Berichte über Operationen am offenen Herzen, über Trauerfälle kommen vor. Ebenso Fragen über das Legen von Magensonden, oder Bilder von Neugeborenen, die Wochen bis Monate auf der NICU („Neonatal Intensive Care Unit“) verbringen. Denn ein weiterer Fakt, den man im Hinterkopf behalten sollte, ist, dass Kinder mit schweren Herzfehlern, Mangelernährung, oder eben einer globalen Entwicklungsverzögerung, viel früher und intensiver auf alles Mögliche getestet werden, als zum Beispiel ein anderes Mädchen, das außer Lymphödemen und Mittelohrentzündungen keine weiteren Probleme hat. Tendenziell werden die Fälle, in denen mehr Probleme auftreten, also auch früher diagnostiziert. Die meisten Gruppenmitglieder von Facebook Gruppen zum Thema UTS, wie auch Menschen, die sich länger in UTS- Organisationen engagieren, haben auch schon von deutlich mehr als nur ein oder zwei Frauen mit UTS gehört, welche in jungen Jahren an einer Aortendissektion verstorben sind. Nur zur Einordnung: wir mit UTS haben dafür ein Lebenszeitrisiko von um die 2%, die Mehrzahl der Fälle ließe sich außerdem mit regelmäßigen Kontrollen und im Ernstfall mit einer rechtzeitigen Operation verhindern Aber: Traumatische Erlebnisse bleiben im Gedächtnis haften, und werden in ihrer Häufigkeit damit systematisch überbewertet.
Bezüglich möglicher Manifestationen des UTS und deren „Schwere“ existiert ein extrem weites Spektrum- und das eine Ende dieses Spektrums ist alles andere als lustig. Daran werden wir alle wohl oft genug erinnert. Am entgegengesetzten Ende gibt es andererseits auch wieder viele Frauen, die sich nie weiter mit dem UTS beschäftigen, einfach, weil (scheinbar) keine Notwendigkeit besteht, und weil das ständige Gerede von „Einschränkungen“, „Schwerbehindertenausweis“, „Zugeständnissen“ sie stört. Tendenziell ordne ich mich selbst fast auch dieser Gruppe zu. Wenn man Kontakt mit Betroffenen sucht, die offen mit ihrer Diagnose umgehen, bekommt man also nicht zwangsläufig ein realistisches Bild von der Häufigkeit bestimmter mit dem UTS zusammenhängender Komplikationen. Aber eines lernt man: Demut. Vielleicht, ganz vielleicht, hat mich das UTS letztendlich empathischer gegenüber Menschen mit irgendeiner Art von gesundheitlichen Einschränkungen gemacht. Vielleicht würde ich in bestimmten Situationen die „richtigen“, hilfreichen Worte finden. Obwohl es mir Einiges abverlangen würde, diese dann auch auszusprechen.
Definitiv hat mich die Diagnose daneben dazu gebracht, vermehrt über die kleinen Dinge nachzudenken, die mich von anderen Menschen unterscheiden, was nicht unbedingt nur gesund ist. Zu schnell kann es zu selbsterfüllenden Prophezeiungen kommen. Zu schnell hinterfragt man Dinge, die man eigentlich ganz selbstverständlich, ohne viel Nachdenken, hinbekommen würde, seien es Mathearbeiten oder Fahrstunden. Und dann geht es einem wie dem Tausendfüßler, der nicht mehr tanzen kann, sobald er beginnt, die Koordination seiner vielen Beine bewusst zu durchdenken. Andererseits sind die Unterschiede zu anderen Menschen bei uns mit dem UTS oft schon vorhanden, auch, wenn wir sie vielleicht ganz gut überspielen können. Mal sind sie mehr, mal weniger ausgeprägt. Aber zu verstehen, warum man vielleicht bestimmte Schwächen hat, kann genauso heilsam sein. Um konstruktive Lösungsmöglichkeiten für bestimmte Probleme zu finden, auf seine Stärken zu vertrauen, ohne sich für seine Schwächen schämen zu müssen. Das alles führt im besten Falle zu Akzeptanz- in einem Alter, in dem man mit all diesen Informationen sinnvoll umgehen kann.
Bindeglieder
Claudia Mescheder schreibt in ihrem Blog: „Mein Mann sagt immer: Ihr Turner-Frauen (…) [seid] genau zwischen behindert und normal, ihr könnt genau deshalb auch ein Bindeglied sein zwischen behinderten und nicht-behinderten Menschen..“[4] Zunächst habe ich ehrlich gesagt gestutzt und der erste Gedanke, der mir durch den Kopf ging, war wohl etwas wie: „So habe ich mich damals in der Grundschule aber nicht gefühlt.“ Doch seither habe ich immer wieder über uns als Bindeglieder zwischen zwei so oft streng getrennten Welten nachgedacht. Nun ja, mir liegt es fern, irgendeine Art von „Behindertenaktivistin“ sein zu wollen. Ich poche mit einer bemerkenswerten Sturheit darauf, keine Zugeständnisse von anderen zu brauchen. Das kommt, wie man sich denken kann, eventuell nicht gut an bei Menschen, die zwangsläufig tagtäglich Hilfe und Zugeständnisse annehmen müssen. Andererseits fällt durch das UTS eine schöne Lüge weg, die viele junge Menschen und sogar (oder gerade?) Ärzte sich selbst im Umgang mit Krankheit und Leid gerne erzählen. „Das betrifft doch nur „die anderen““. Ich sehe vor mir die Bilder von so früh verstorbenen jungen Frauen, von geistig leicht bis schon offensichtlich eingeschränkten jungen Mädchen, gehörlosen Frauen, zu jungen Frauen, die schon eine Vielzahl von gesundheitlichen Problemen haben, von Arthritis über Diabetes Mellitus bis Colitis Ulcerosa. Ja, das UTS macht es einem manchmal schwer, sich für so unsterblich zu halten, wie das andere Jugendliche tendenziell tun. Manchmal meinen auch Frauen mit dem UTS, nicht auf ihre Gesundheit achten zu müssen, oftmals zahlen sie dafür einen Preis. Andererseits geht es in vielen Fällen, anders, als Ärzte, Facebook Gruppen, oder verschiedene Organisationen einem erzählen werden, auch gut. Über Jahre und Jahrzehnte. Die meisten von uns haben vermutlich jedoch eher Probleme damit, auf ihren Körper zu vertrauen. Wir neigen, verständlicherweise, dazu, unsere Gesundheit als noch fragiler zu betrachten, als sie es tatsächlich ist. Alle diese Gedanken gehen mir durch den Kopf, und ich denke: Nein, als „halb behindert“, falls dieses Konzept existieren sollte, sehe ich mich immer noch nicht. Aber ich verstehe heute etwas besser, wie der Begriff „Bindeglieder“ gemeint ist.
Vielleicht falle ich nicht auf die Art aus der Norm, die man von jemandem mit einer „Krankheit“ erwarten würde- sondern so, wie viele andere Nerds und Freaks dieser Welt. Vielleicht ist nichts Schlimmes dabei, nicht fein säuberlich in eine bestimmte Schublade zu passen.
„Die UTS- Patientin“ und „Ich, der Mensch“ waren für mich lange zwei verschiedene Instanzen aus eben diesen zwei verschiedenen Welten, die absolut nichts voneinander wissen wollten. Erst in der letzten Zeit hat sich das entschieden verändert, sodass ich heute sagen kann: Ich bin wer ich bin, nicht „trotzt“ des UTS, sondern „mit“ dem UTS. So weit, zu sagen, dass ich ein „Bindeglied zwischen zwei Welten“ wäre, will ich vielleicht nicht gehen- aber wer behauptet denn, dass zwei streng voneinander getrennte Welten existieren müssen? Die Evolution trimmt uns auf das schnelle, effiziente Einsortieren in Schublanden- aber die Natur selbst liefert uns, wenn wir einmal genau hinsehen, vor allem kontinuierliche Spektren.
[1] Das Lormen in eine besondere Methode zur Verständigung für Taubblinde. Bestimmte Striche und Punkte auf der Handfläche werden dabei bestimmten Buchstaben zugeordnet. [2] “Clock” von 2006 [3] Auch „Krankheit“ oder „chronische Krankheit“ sind allerdings nicht die besten Begriffe, um das UTS zu beschreiben. Wissenschaftlich korrekt sind die Begriffe „Genommutation“, „numerische Chromosomenaberration“ oder „Chromosomenaneuploidie“. Weniger wissenschaftlich spricht man oft von einem „Genfehler“. Der netteste deutsche Begriff, den ich bisher gelesen habe, ist jedoch „Chromosomensatzvariation.“ Im Englischen ist übrigens meiner Meinung nach der schön neutrale Begriff „condition“ dem auch von Betroffenen häufig verwendeten „disorder“ vorziehen, das eine behandlungsbedürftige „Störung“ suggeriert. „disease“ oder „illness“ sind, als die englischen Entsprechungen von „Krankheit“, faktisch inkorrekt. Ganz einerlei ist die Wortwahl in diesem Zusammenhang nicht. Wie wir über etwas, zum Beispiel das UTS, reden hat einen großen Einfluss darauf, wie wir damit umgehen. Gerade, wenn die Mehrheit der Bevölkerung zu dem Thema wenig informiert ist. [4] Mescheder 2018, https://missingxchromosome.jimdofree.com/2018/01/13/voll-normal/
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