Science- Genomische Prägung (und ihre mögliche Bedeutung beim UTS)
- Annelie Neubauer
- 31. Okt. 2021
- 4 Min. Lesezeit
Die genomische Prägung (genomic imprinting) ist ein interessantes Konzept aus der Genetik. Es besagt, dass es auch Gene gibt, deren Allele sich nicht typisch dominant oder rezessiv verhalten- stattdessen wird generell entweder die von der Mutter geerbte, oder die vom Vater geerbte Kopie des Gens inaktiviert, je nach Gen natürlich. Dies bedeutet keinesfalls, dass die inaktivierte Kopie des Gens nicht weitervererbt werden könnte, aber in der Person selbst wird sie nicht abgelesen.
Warum gibt es diese genomische Prägung überhaupt? Eine einfache, bestechend logische Erklärung dafür habe ich in dem Buch "Behave" von Robert Sapolsky gefunden. Evolutionär gesehen, ist es für männliche Lebewesen besser, dass ein Kind sich möglichst schnell entwickelt, und im Zweifelsfall lieber der Mutter zu viel Energie zum Wachsen entzieht, denn der Vater hat so die besten Chancen, seine Gene weiterzugeben. Dagegen "will" die Mutter das Wachstum ihres Kindes möglichst in einem vernünftigen Rahmen halten, damit steigen ja, auf lange Sicht betrachtet, ihre Fortpflanzungschancen. Somit beschleunigen Gene, von denen die väterliche Kopie abgelesen wird (paternale Gene), das Wachstum des Kindes, maternale Gene zügeln es.
Manchmal hat die genomische Prägung einen echten Krankheitswert. So liegen auf dem langen Arm des Chromosoms 15 zwei Gene, die in der Humangenetik relativ oft Thema sind. Von einem dieser Gene wird die maternale Kopie inaktiviert. Falls jemand also keine funktionsfähige paternale Kopie dieses Genes aufweist, zeigt sich im Phänotyp das Prader Willi Syndrom. Hauptsächlich liegt hier ein Problem im Hypothalamus vor. Der Hypothalamus sendet all die Releasing- Hormone aus, die auf die Hypophyse und letztendlich auf Schilddrüse, Gonaden, Nebennierenrinde wirken, welche wiederum andere Hormone produzieren. Unter anderem haben Kinder mit dem PWS einen Wachstumshormonmangel, denn auch das Somatropine Releasing Hormone wird vom Hypothalamus ausgeschüttet (das Somatropin selbst dann von der Hypophyse). Die Effekte des Wachstumshormonmangels zeigen sich sehr deutlich, in einer verminderten Muskelspannung und einem verringerten Energieumsatz. Darüber hinaus wirkt das "Ich- bin- satt- Hormon" Leptin, welches vor allem in Dünndarmzellen produziert wird, bei gesunden Menschen auf den Hypothalamus. Wenn dies nicht normal möglich ist, ergibt sich das charakteristischste Symptom des PWS, ein ständiger, unstillbarer Hunger- der im Zusammenhang mit dem deutlich niedrigeren Energieumsatz fast zwangsläufig zu Übergewicht und den damit einhergehenden Problemen führt (tragisch ist dabei, dass Neugeborene mit dem PWS oft Probleme mit der Nahrungsaufnahme haben, und somit teilweise ein gefährlich niedriges Körpergewicht aufweisen, bis mit circa drei Jahren das Hungergefühl einsetzt). Die Intelligenz von Menschen mit dem PWS ist oft, aber nicht zwangsläufig, mehr oder weniger stark vermindert, wobei gerade das räumliche Vorstellungsvermögen im Allgemeinen gut erhalten bleibt. Für die Medien ist das PWS eine durchaus "spektakuläre" Erkrankung, vermutlich haben also mehr Menschen schon einmal von dem Syndrom gehört, als man bei einer Inzidenz von nur 1: 10.000 erwarten würde. Bei einem anderen Gen auf Chromosom 15 wird dagegen die paternale Kopie inaktiviert, ohne funktionstüchtige maternale Kopie hat man das sogenannte "Angelman Syndrom"(Inzidenz 1:15.000). Die Auswirkungen zeigen sich vor allem im kognitiven Bereich, häufig lernen betroffene Kinder nie das Sprechen, können daneben auch unter epileptischen Anfällen leiden. Dabei sind ein offenes Auftreten und ein ständiges Lächeln weitere charakteristische Merkmale des Angelman Syndroms. Für uns vielleicht auch interessant ist das extrem seltene "Russel Silver Syndrom"(häufig bedingt durch ein bestimmtes Gen auf Chromosom 7, von dem die paternale Kopie inaktiviert wird). Das RSS führt zu einem intra- uterinen Kleinwuchs, die Endgröße liegt bei durchschnittlich ca. 140cm für Mädchen, 150cm für Jungs (oft wachsen die beiden Körperhälften leicht unterschiedlich schnell, verschiedene andere Probleme sind möglich. Wachstumshormon kann die Endgröße nicht nennenswert steigern). Die Intelligenz der Betroffenen ist normal. (Nebenbemerkung: Wie kommt es, dass jemand keine funktionstüchtige maternale oder paternale Kopie eines Gens hat? Die naheliegendste Erklärung ist natürlich, dass eine Mutation dieses Gens ererbt wurde, wobei ja weder Vater noch Mutter symptomatisch sein müssen. Die Mutation kann genauso im Betroffenen spontan auftreten. Es gibt jedoch auch eine andere, vielleicht nicht ganz intuitive Möglichkeit: Durch einen Fehler in der Meiose kann es manchmal vorkommen, dass beide Kopien eines Chromosoms in einem Menschen vom selben Elternteil stammen (uniparental disomy). Entweder, ein Chromosom wurde "kopiert", um eine (wie wir wissen meist tödliche) Monosmie zu verhindern, wobei man von einer "uniparental isosomy", iso von "gleich", spricht, oder man hat von beiden Chromosomen des homologen Paares eine Kopie, weil eines von ursprünglich drei Chromosomen wegen einer drohenden Trisomie "gelöscht" wurde, dies wäre eine "uniparental heterosomy", hetero wie "unterschiedlich". Und ja, in diesen Fällen werden auch zwei von der Mutter beziehungsweise vom Vater stammende Gene beide inaktiviert.)
Warum ist das alles nun im Bezug auf das UTS, möglicherweise, relevant? Nun ja, aufgrund des maternalen oder paternalen Ursprungs unseres einen X- Chromosoms (bei Menschen mit dem Karyotyp 45X0). Eine deutliche Mehrheit von uns (ca. 85%) erbt übrigens das X- Chromosom der Mutter. Damit verbunden ist wohl ein im Vergleich zu einem paternalen X- Chromosom erhöhtes kardiovaskuläres Risiko (welches man auch an 46XY Männern sieht, die ja alle ein maternales X- Chromosom aufweisen, vom Vater erben sie das Y- Chromosom). Viele Studien haben sich mit den Auswirkungen eines maternalen oder paternalen X Chromosoms befasst, manche Studien behaupten, Auswirkungen auf Größenwachstum, Lipidprofile, kognitive Fähigkeiten et cetera gefunden zu haben, andere sehen das nicht. (Zum Beispiel Effect of the parental origin of the X-chromosome on the clinical features, associated complications, the two-year-response to growth hormone (rhGH) and the biochemical profile in patients with turner syndrome | International Journal of Pediatric Endocrinology | Full Text (biomedcentral.com), Impact of parental origin of X-chromosome on clinical and biochemical profile in Turner syndrome (degruyter.com), Clinical significance of the parental origin of the X chromosome in turner syndrome - PubMed (nih.gov), das Thema wird auch im zweiten Teil des folgenden Vortrags angesprochen: Demystifying Medicine 2013 - Turner's Syndrome: The X Chromosome - YouTube).
Alles in allem ist ein paternales X wohl einem maternalen X vorzuziehen (besonders groß ist der Effekt sicherlich nicht, gut quantifizierbar ist er im Moment genauso wenig), aber die wenigsten von uns wissen vermutlich, von welchem Elternteil ihr X- Chromosom stammt. Die gute Nachricht ist: das müssen wir auch nicht. Dies hier ist lediglich ein Denkanstoß, etwas von der Faszination der Wissenschaft, die Forscher in ihrer täglichen Arbeit antreibt. Doch bei weitem nicht alles, was statistisch signifikant oder aus wissenschaftlicher Sicht interessant erscheint, ist auch relevant für unseren Alltag. Die Wissenschaft will verstehen, will erklären, um der Erweiterung des Wissens willen. Die Verantwortung dafür, die persönliche Relevanz wissenschaftlich haltbarer Thesen, gesicherter Erkenntnisse oder Empfehlungen korrekt einzuordnen, liegt jedoch bei uns selbst.
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