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Opinion- Besorgnis, Bevormundung und "Behinderung"

Wie wäre das, in dem Selbstverständnis aufzuwachsen, dass man "behindert" ist,

und bei jeder kleinen, eigentlich selbstverständlichen Sache zweimal überlegen sollte, ob man sie tuen kann?



"Du willst Gewichtheben oder Turnen?- Frag vorher lieber erstmal eine Facebookgruppe und zwei Kardiologen, ob das für dich eine gute Idee ist." "Ja, natürlich gibt es die In- vitro- Fertilisation mit Eizellspende falls du irgendwann mal schwanger werden willst, aber bei dem kardiovaskulären Risiko mit UTS wäre das ja fast schon fahrlässig. Nee, schlag dir das lieber aus dem Kopf" "Du willst heute bei deiner Freundin übernachten? Alles klar, denk aber ja an deine Wachstumshormonspritze. Du weißt, 1,2mg, und der Pen muss sobald du dort bist möglichst schnell in den Kühlschrank". "Also so ganz wohl fühle ich mich nicht dabei, dass du jetzt schon Fahrstunden nehmen willst, hat das nicht noch etwas Zeit?" "Die schwere Tasche kannst du bestimmt nicht tragen, komm, lass mich dir helfen."


Und das tagein, tagaus. Gerade in verschiedenen Facebook Gruppen lässt sich gut beobachten, was passieren kann, wenn Eltern durch die Diagnose UTS verunsichert übervorsichtig werden. Und in diesem Zusammenhang kann man sich selbst auf Ärzte, die je nach Erfahrungsschatz natürlich auch eher zur Vorsicht neigen, nicht immer blind verlassen. Am Ende geht es also oft genug um ein Mädchen, das eigentlich praktisch keine Probleme hat, außer, dass es kleiner ist als andere, und es ihm aus verschiedenen Gründen an Selbstbewusstsein fehlt. Jedoch machen viele Menschen in seinem Umfeld, von Eltern bis Lehrern, sich manchmal fortwährend Sorgen um das Kind, womöglich zu viele. Und nehmen dem Mädchen damit unbewusst seine Selbstständigkeit, und sein Selbstvertrauen.


Denn die meisten der möglichen UTS- Problematiken muss man im Alltag nicht unbedingt zu einer großen Sache machen. Kardiovaskuläre Risiken sind individuell zu bewerten, aber oftmals deutlich überschaubarer, als man annehmen könnte (in so gut wie allen Fällen ist es tatsächlich deutlich gefährlicher, keinen Sport zu machen, als selbst risikoreichere Sportarten zu betreiben). Die Wachstumshormontherapie kann man ab einem relativ jungen Alter gut selbstständig vornehmen, für Übernachtungen etc. gibt es Einmalspritzen. auch die Spritzen müssen also nicht unbedingt ein großes Thema sein- und man sollte auch nicht vergessen, dass das Somatropin ein (für uns) nicht lebensrettendes Medikament ist. Ob es wirklich "gesünder" für jemanden mit dem UTS ist, sich zu spritzen, als es einfach sein zu lassen, ist sowieso noch nicht einmal raus- etwas größer wird man jedenfalls, hoffentlich. Aber irgendwie verbinden wir Spritzen, und die häufigen Arzttermine, die damit einhergehen, in unserem Kopf mit "krank" und "behandlungsbedürftig" sein. Ich persönlich bin mehr als froh darüber, dass ich erst mit 12 Jahren diagnostiziert wurde, und so viele der hier beschriebenen Problematiken nie persönlich erleben musste. Beziehungsweise erst in einem Alter, in dem ich emotional einigermaßen mit all diesen Dingen umgehen konnte. Seit ich mich etwas mit dem Thema UTS befasse, ist mir selbstverständlich durchaus bewusst, dass viele Eltern angemessen auf frühe Diagnosen des UTS reagieren, und weder überbehüten, noch das Kind zu einem "Wunder" verklären. Ich kenne allerdings auch die anderen Beispiele, nach denen muss man ja nicht lange suchen. Welcher Umgang mit der Diagnose häufiger ist, will ich überhaupt nicht bewerten.


Was mir jedoch deutlich auffällt, ist, dass viele Betroffene die übertriebene Besorgnis ihrer Eltern übernehmen. Und das ist alles andere als gesund. Ich meine damit nicht, dass man bestimmte Arzttermine oder einen gesunden Lebensstil vernachlässigen sollte, keinesfalls. Aber irgendwann gibt es dann auch nicht mehr, was man für seine Gesundheit tun kann. Es gibt nur eine bestimmte Zahl an medizinischen Screenings, die mehr nützen als schaden. Es gibt nur ein bestimmtes Maß an Therapien und Frühförderung, das in einem bestimmten Fall mehr nützt als schadet. Und alles, was an Besorgnis beziehungsweiße Angst darüber hinausgeht, nimmt nur unnötig Lebensfreude.

Was, wenn man nicht mehr auf seinen eigenen Körper vertrauen kann, sondern ständig auf das nächste potentielle gesundheitliche Problem schielt, sich bei jeder kleinen Infektion einredet, man sei anfälliger, gefährdeter als andere, und, übertrieben gesagt, jeden Abend den nächtlichen Tod durch eine Aortendissektion fürchtet? (Ironischerweise neigen Menschen mit hypochondrischen Tendenzen außerdem eher zum Einwerfen von unnötigen Tabletten, als zu hilfreichen Änderungen ihres Lebensstils) Was, wenn man das Gefühl hat, ständig zu einer großen Zahl an Ärzten rennen zu müssen, und dabei vor jedem einzigen Arzttermin panische Angst hat? Glauben Sie mir, alles das wirkt sich massiv auf die Lebensqualität aus. Wie soll man schulischen Erfolg haben, wenn einem jede Herausforderung aus dem Weg geräumt, und jede schlechte Note in der Mathematik auf die Genetik geschoben wird? Wenn jedes kleine schulische Problem gleich eine "kognitive Einschränkung" ist? Und wie geht es einem später im Leben damit, dass man bei jedem verlegten Schlüssel, bei jeder verpassten Straßenkreuzung unwillkürlich an das UTS denken muss (schlechtes Kurzzeitgedächtnis, schlechte Orientierung)? Die Grenze zwischen angemessener Vorsicht und übertriebener Vorsicht ist nicht immer leicht zu finden.


"Krankgeredet" werden, unter den eigenen Möglichkeiten bleiben, einen Sonderstatus bekommen, den man nicht nötig hat. Das alles ist das "second-worst case Szenario", das daraus resultieren kann, wenn wir im Zusammenhang mit dem UTS die möglichen Einschränkungen überbetonen, es als "Krankheit" oder "Behinderung" darstellen.


Und der worst case? Stellen Sie sich für einen Moment vor, Sie wären eine schwangere Frau, die, in genau in diesen Worten, gesagt bekommt, dass "ihr Kind eine Behinderung haben wird, mit der man aber, trotzt gewisser Einschränkungen, ganz gut leben kann." Sogar diese Formulierung ist noch harmlos im Vergleich zu einigen anderen die man so von Humangenetikern hört. Überlegen Sie also für einen Moment, was Sie sich unter dem Begriff "Behinderung" vorstellen, und dann schauen Sie sich neun von zehn Frauen mit dem UTS an, und denken sich ihren Teil. Manchmal ist nicht nur wichtig, wie ein Begriff eigentlich gemeint ist, sondern vor allem wie er verstanden wird. Egal, wie jede von uns zu Inklusion, Abtreibungen, et cetera, steht- einig sind wir uns wohl darin, dass wir schwangeren Frauen in irgendeiner Weise ein realistisches Bild vom UTS vermitteln müssen, und dazu gehört eben die entsprechende Wortwahl.


Am Ende dieses Textes können Sie sich sicherlich gut vorstellen, wie ich dazu stehe, dass etwa Niedersachsen jede mit dem UTS nur aufgrund der Diagnose als schwerbehindert (mit 60 GdB) abstempelt. Natürlich sollten die Betroffenen, die Hilfe brauchen, diese auch möglichst unbürokratisch erhalten. Aber alle mit dem UTS über einen Kamm zu scheren, ist nicht gerechtfertigt bis gefährlich. Mir fällt nur eine einzige Sache ein, die ich wohl nie können werde, mit meinen eigenen Eizellen schwanger werden, und das alleine qualifiziert einen nach menschlichem Ermessen nicht für eine Schwerbehinderung/ Behinderung irgendeiner Art. Wer keine Einschränkungen hat, ist nicht behindert, so einfach, denn wir behandeln Menschen, keine Diagnosen.


Manche Menschen sollten die Diagnose UTS sicherlich ernster nehmen, etwa, weil sie es nicht für nötig halten, ab und an einen Kardiologen aufzusuchen, oder insbesondere, wenn eine Betroffene sich berechtigterweise über Probleme beklagt, die jemand anderem eher als trivial erscheinen. Gerade Eltern könnten sich oftmals jedoch etwas entspannen. Das UTS ist kein medizinischer Notfall. Lasst euch Zeit, lasst euer Kind zum richtigen Zeitpunkt seine eigenen Entscheidungen treffen (etwa darüber, wer überhaupt von der Diagnose erfahren soll). Hilfe, die jemand nicht braucht oder will, ist nicht hilfreich, sondern übergriffig. Und Risiken gibt es im Leben immer- ehe man sich einen Kopf um sie macht, oder ihnen aus dem Weg geht, sollte die entscheidende Frage also sein: Wie kalkulierbar ist dieses Risiko? Wir treffen unsere eigenen Entscheidungen, machen unsere eigenen Fehler, und wie jeder volljährige, zurechnungsfähige Mensch haben wir ein Recht darauf. Wir brauchen keinen moralischen Zeigefinger, niemanden, der uns erzählt, was angeblich "nicht ethnisch vertretbar" ist. Und früher im Leben brauchen wir niemanden, der Probleme herbeiredet, die (noch) gar nicht existieren- in den seltensten Fällen kann man Probleme lösen, bevor sie überhaupt auftreten.


Lasst uns ganz einfach unser Leben leben, und in vielen Fällen wird es ein Leben ohne nennenswerte Einschränkungen sein.



 
 
 

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