Advice- Perspektivwechsel
- Annelie Neubauer
- 6. Feb. 2022
- 6 Min. Lesezeit
Ich habe hier ja schon einiges über das „neurokognitive Profil des UTS“ geschrieben. Und so sehr ich mich auch bemüht habe, die so häufigen Fehler in der Diskussion dieses Themas zu vermeiden- letztendlich habe auch ich mehr oder weniger trocken durchschnittliche Stärken und Schwächen aufgezählt.
Das möchte ich an dieser Stelle ändern. Hier geht es um einen Perspektivwechsel. Um das Thema: „Warum brauchen wir Menschen, und Fähigkeiten, die aus der Norm fallen?[1]
Dabei maße ich mir keinesfalls an, für alle Personen mit dem UTS zu sprechen! Genauso wenig kann ich natürlich sagen, was nun ursächlich mit dem UTS zusammenhängt, oder auch nicht.
Über weite Strecken meiner Kindheit hatte ich ja keine Diagnose, und gerade deshalb bestand weder bei mir noch meinen Eltern die geringste Neigung, eventuelle Normabweichungen als „krankhaft“ zu bezeichnen. Die Menschen, mit denen ich mich innerlich identifiziert habe, waren „Nerds“- ebenfalls ohne den Stempel einer Diagnose. Was wir gemeinsam hatten? Nun, für mein Gefühl befanden wir alle uns irgendwo knapp an der Grenze dessen, was im Allgemeinen als „normal“ angesehen wird. Wir „passten nicht“ in die üblichen sozialen Gefüge, brillierten in manchen Bereichen, versagten an anderer Stelle kläglich.
Man sagt immer gerne „jeder Mensch ist individuell“- und natürlich stimmt das, in gewisser Weise. Nur, wenn man Pause um Pause alleine an einen Baum gelehnt in der Ecke des Pausenhofs verbringt, und die anderen Sechstklässler beobachtet, die toben, schreien, sich über Mode auslassen, dann zieht man daraus einen etwas anderen Schluss. Man bekommt das Gefühl, dass sich die meisten Menschen sich in ihrem Denken und Fühlen im Grunde doch sehr ähnlich sind. Und, aus welchem Grund auch immer, weicht man von diesem „Typischen“ ab. Nicht sehr, aber definitiv weit genug. Auffällig genug. Wenn irgendjemand glaubt, sich öffentlich als etwas „Besonderes“ profilieren zu müssen, und eine „ganz individuelle“ Meinung zu haben- dann steht dahinter oft genug eine Idee, die tatsächlich alles andere als „non- konform“ oder „neu“ ist. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, braucht es noch keine Neurodivergenz.
Aber vielen Menschen geht, aus für mich unerfindlichen Gründen, scheinbar das Bewusstsein dafür ab, welche Bandbreite an verschiedenen Erfahrungswelten und Perspektiven unter uns existiert. Seien sie bedingt durch verschiedene kulturelle Hintergründe oder soziale Verhältnisse. Sei es durch Krankheit, sei es durch Hochbegabung, oder eben Neurodivergenz. Diejenigen Personen, die verschiedene Kulturen (oder Staatssysteme) erlebt haben, äußern sich zu politischen und weltanschaulichen Themen häufig um einiges differenzierter, als durch und durch „modern westlich“ erzogene. Nun gilt dasselbe für eine Mehrheit derjenigen Menschen, die unsere Gesellschaft, als Außenseiter, oder als "Patienten" „von schräg unten“ erlebt haben. Prioritäten verschieben sich, der Blickwinkel ändert sich.
Nicht selbstverständlich zu „den anderen“ dazuzugehören, schmerzt. Und ich bin nicht überzeugt davon, dass irgendjemand es sich jemals freiwillig aussuchen würde. Ich persönlich jedenfalls habe mich irgendwie, ohne zu verstehen, warum, in der Außenseiterrolle wiedergefunden. Und sie allmählich zu schätzen gelernt. Natürlich werden auch wir durch Erfahrung und Erziehung geprägt. Der entscheidende Unterschied ist jedoch: Wer zu keiner Gruppe dazugehört, der rennt auch keinem Gruppenführer hinterher. Wer Erfahrungen hat, die viele Menschen nie machen werden, der kann auch verschiedenste Erfahrungen in seine Weltsicht einbeziehen. Wer nicht in der Masse mitschwimmt, der kann ein Stück weit zum unbeteiligten Beobachter werden. Und aus der Weitwinkelperspektive eröffnet sich ein neuer, erkenntnisreicher Blick auf die Welt…
Dazu kommen gewisse kognitive Stärken, als Teil eines „package deals“. Mein Gehirn ist nicht allzu versiert in räumlicher Wahrnehmung, im Einschätzen von Körpersprache. Dafür arbeitet es mit Worten, Formulierungen, Sprachrhythmus. Und das sehr effektiv. So kommt es zum Beispiel, dass ich nach dreimaligem Durchlesen den seitenlangen Text aus unserem Englischbuch auswendig vortragen konnte (trotzt zu dem Zeitpunkt sehr limitierter Englischkenntnisse). Während meine Mitschüler glaubten, ich müsste den Text doch stundenlang auswendig gelernt haben, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Tatsache ist: irgendetwas an der englischen Sprachmelodie faszinierte mich, und so prägte sich das Gesagte praktisch von selbst ein. Es sind also nicht nur Wörter an sich, Betonung und richtige Aussprache merke ich mir mindestens genauso gut- selbst, wenn meine tatsächliche Aussprache im Englischen mangels Übung alles andere als perfekt ist. Genau daher kommt auch meine Sicht darauf, wie man Sprachgefühl entwickeln kann. Zunächst einzelne Wörter lernen, dann Gedichte auswendig lernen, lesen. Die Sprache in sich aufsaugen, eine große Kartei verschiedener Formulierungen anlegen, aus der man schöpfen kann. Es ist, wie in so vielen Bereichen: Die Basis für „kreative“ Leistungen, sind geübte und auswendig gelernte Grundlagen. Auch im Deutschen merke ich mir lange Passagen etwa aus dem „Faust“ oder „Nathan der Weise“ ziemlich leicht, wieder aufgrund der eingängigen Sprachmelodie. Sprachgefühl ist Sprachgefühl, egal in welcher Sprache.
Der „Gedächtnis-“ aspekt des Ganzen ist übrigens häufig von großer praktischer Relevanz- wenn man etwa im Rahmen des Studiums halbe Biologie- und Chemiebücher auswendig lernen soll. Auch, wenn diese Fakten sich natürlich schlechter merken lassen, als Lyrik (je mehr Formeln, je weniger Erklärung, desto schwieriger). Wer kein besonders ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen hat, der ist außerdem um einiges besser dran, wenn er zumindest in Worten abgespeichert hat, an welchen markanten Gebäuden er auf seinem Weg vorbeigekommen ist. An dieser Stelle will ich noch einmal die mögliche Diskrepanz zwischen Langzeitgedächtnis, und Kurzzeitgedächtnis (für Kleinigkeiten wie „ich hatte den Schlüssel doch auf dem Tisch abgelegt“) betonen. Letzteres ist bei mir deutlich schwächer, gerade, wenn irgendeine Art von „Richtungsinformation“ eine Rolle spielt. Genauso habe ich definitiv kein „fotografisches Gedächtnis“- mein Gedächtnis für alle Arten von Formen und „Bildern“ ist allerhöchstens durchschnittlich. Daher würde ich viel eher von einem „sprachlichen Gedächtnis“ oder „Wortgedächtnis“ sprechen. In jedem Fall will ich diese Fähigkeit nicht missen.
Und was ist mit dem „Sprachgefühl“? Nun, dieses hilft mir dabei, die rein in Worten abgespeicherten Zusammenhänge auch zu begreifen, sei es in Chemie oder in der Mathematik. Für verschiedene Menschen wird es dabei unterschiedlich effektiv sein, aber man kann durchaus aufbauend auf Sprachgefühl auch ein „Gefühl“ für mathematische Zusammenhänge entwickeln.
Vor allem jedoch ist Sprachgefühl die absolute Voraussetzung dafür, Emotionen zu transportieren, und andere Menschen mit dem geschriebenen Wort zu berühren. Rhetorik ist eine potentiell mächtige Waffe- ich persönlich hatte schon sehr früh ein Bewusstsein dafür, dass ich andere Menschen durchaus von meinem Standpunkt hätte überzeugen können, wenn sie mir nur die Gelegenheit gegeben hätten, meine Worte vorher in schriftlicher Form zu formulieren. Wenn sie mir nur einmal zugehört hätten. Mit den richtigen Worten, so glaubte ich, müsste man doch jeden Menschen genau das sehen lassen können, was man ihm zeigen will. Und ein Stück weit stimmt das auch, zumindest, wenn man sich nicht in seinen eigenen Emotionen verrennt, und andere mit harschen Äußerungen eher vor den Kopf stößt. Wie sagt Cicero so treffend? „Der wahre Redner hat Macht“. Worte haben Macht.
Genauso schaue ich jedoch voller Bewunderung vor denjenigen Menschen auf, die aus Stift und Papier ganze Welten entstehen lassen können. Und, ganz ehrlich, wann hat jemals eine zufriedene, durchschnittliche Person ein herausragendes Stück Literatur verfasst? Um sein Leben dem Schreiben widmen zu wollen, muss man wohl bereits ein exzentrischer Einzelgänger sein. Um authentisch zu schreiben, muss man emotionale Höhen und Tiefen, Euphorie, Schmerz, und Tod kennen.
Ich hoffe, ich konnte euch die Augen öffnen. Dafür, nach Stärken, statt nur nach „Defiziten“ zu suchen. Jeder Mensch hat besondere Fähigkeiten, jeder Mensch hat der Welt irgendetwas von Wert zurückzugeben. (Vermutlich hat er sogar eine moralische Pflicht dazu.)
Und: oft genug resultieren eben diese Stärken aus Normabweichungen und „Entwicklungsstörungen“. „Neurotypische“ Gehirne gibt es viele, aber die Welt wäre um einiges ärmer ohne Albert Einstein, Reinhard Mey, Temple Grandin. Keiner dieser Menschen ist außerdem „trotzt“ seiner Diagnose ein Genie. Sie sind wer sie sind, mit ihren Diagnosen.
Wir sind wer wir sind, mit dem UTS. Und auch wir als Gesellschaft brauchen alle diese Menschen, denn gerade diejenigen, die aus der Norm fallen- bringen oft gleichzeitig Fähigkeiten mit, die anderen fehlen. Also: Sucht eure Stärken, ganz bewusst, lasst euch keinesfalls auf Bereiche reduzieren, in denen ihr eventuell Probleme habt. Arbeitet an euren Schwächen so weit, dass sie eure Stärken nicht einschränken- und das vor allem rechtzeitig. Versucht, eure Stärken in dem was ihr tut auch zur Geltung zu bringen. (Und, an alle Eltern: auch besondere Fähigkeiten entwickeln sich nur dann, wenn sie entsprechend gefördert werden! Wenn eine Sechstklässlerin bereits auf Englisch Romane lesen und Essays verfassen kann, dann ermutigt sie zumindest dazu, dass zu Hause auch zu tun, wenn sie sich schon in der Schule mit Kindergeschichten langweilen muss). Denn wir sind nicht „schlechter“, nicht „weniger fähig“ als andere. Und wir haben es ganz gewiss nicht nötig, „Normalität“ zum non plus ultra zu erklären.
Wenn "Normalität" bedeutet, sich ein Leben lang nie die großen philosophischen Fragen zu stellen, gedanklich noch mehr in den Normen und Wertvorstellungen irgendeiner zufälligen Gruppe festzustecken, und sich das Denken von anderen abnehmen zu lassen- Dann sage ich mittlerweile tatsächlich, aus tiefster Überzeugung heraus: "Danke, aber nein danke".
[1] Einen entscheidenden Gedankenanstoß für dieses Thema gab mir das Buch „Thinking in pictures“ von Temple Grandin. Ihre Art zu denken unterscheidet sich sehr von meiner, und doch oder gerade deshalb öffnet sie uns die Augen für die Tatsache: „The world needs all kinds of minds“.

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