Experiences- Arzttermin
- Annelie Neubauer
- 4. Nov. 2021
- 5 Min. Lesezeit
Es ist das erste Mal, dass ich selbst aus nächster Nähe erlebe, wovon ich schon so oft gehört habe.
Ich sitze einer jungen Ärztin kurz vor ihrer Facharztprüfung für Allgemeinmedizin gegenüber. "Hallo, Was bringt Sie heute zu mir"? fragt sie freundlich. Ich muss erst einmal schlucken, aus irgendeinem Grund kommen mir diese Worte noch immer nicht ganz leicht über die Lippen. "Ich habe das Ullrich- Turner Syndrom, und da gibt es eben bestimmte Vorsorgeuntersuchungen, die gemacht werden sollten". "Oh". Ich kann ihren Blick nicht ganz einordnen, vielleicht ist es Mitleid, vielleicht auch die Erkenntnis, dass sie nicht wirklich weiß, wie sie mir weiterhelfen soll. "Das kommt gehäuft in Familien vor, richtig?". Hm. Ich verneine, gehe noch kurz auf die möglichen seltenen Ausnahmen ein, lege dann einen dicken roten Hefter vor ihr auf den Tisch. Dabei frage ich mich, ob es wohl irgendwelche anderen Menschen gibt, die es schaffen, ohne nennenswerte gesundheitliche Probleme in nur sechs Jahren einen solchen Stapel an Arztbriefen anzusammeln. Das oberste Blatt ist eine handliche Übersicht der TSSUS über die empfohlenen Untersuchungen. Die Ärztin ist sichtlich dankbar, überfliegt den Zettel. Bei den kardiologischen Untersuchungen angekommen, runzelt sie leicht die Stirn: "Das ist aber ganz schön viel." Da kann ich ihr nur zustimmen, ein kurzes zynisches Lächeln huscht über mein Gesicht. "Was kann ich auf die Überweisung für die Kardiologie schreiben? Kardio CT?" Bitte nicht! "Standardmäßig wird glaube ich ein MRT gemacht", antworte ich ihr ruhig, "Vor allem wegen einer möglichen Aortendilatation". (Das CT wird aufgrund der Strahlenbelastung vermieden). Und dann erkläre ich für den Rest des Termins so knapp wie möglich das UTS, zumindest die wichtigsten Fakten. Die Medizinerin ist ehrlich überrascht, als ich die Inzidenz des UTS erwähne. Eine von 2500 lebenden weiblichen Geburten, eine von 400 Schwangerschaften. "Und da habe ich noch keine einzige Patientin gesehen?" Irgendwie fragen wir uns in diesem Moment vielleicht dasselbe: "Wie ist es möglich, bis zur Facharztprüfung für Allgemeinmedizin zu kommen, ohne eine gute Vorstellung davon zu haben, was das Ullrich Turner Syndrom ist?"
Nun stecke ich genug in dem Thema medizinische Ausbildung drin, um zumindest eine grobe Vorstellung von den gewaltigen Stoffmengen zu haben, die im Medizinstudium, teils durch Bullemielernen, bewältigt werden müssen. Vorlesungen zur Humangenetik- hatte man natürlich irgendwann einmal, das ganze Fach hat einen aber nie so wirklich interessiert, der Prof fand andere Krankheitsbilder erwähnenswerter, und so weiter und so fort. Ärzte sind auch nur Menschen. Außerdem ist man mit dem UTS, glücklicherweise, aus Sicht von Medizinern alles andere als ein "interessanter Fall", außer vielleicht unter Wachstumshormontherapie. (Schon in den ersten beiden Wochen des Medizinstudiums wurden bei uns in den Histologievorlesungen nebenbei einige Krankheiten mit wirklich faszinierenden Pathophysiologien angesprochen- das Katagener- Syndrom, das Hutchinson Gilford Syndrom, die Epidermolysis Bullosa und so weiter. Allesamt sehr selten, sehr unschön, aber vor allem eben mit Krankheitsmechanismen, die zum Verständnis bestimmter biologischer Zusammenhänge beitragen). Wir müssen wohl etwas von diesem Denken wegkommen, dass sich die halbe medizinische Fachwelt um unsere genetische Abweichung dreht, dass wir unbedingt Experten für das UTS als Mediziner brauchen, unbedingt Forschung gerade zum UTS betrieben werden muss, nicht zu einer von zehntausenden anderer Krankheiten, und auch medizinische Laien allesamt schonmal vom UTS gehört haben sollten. Übrigens ist es hier vielleicht ganz gut, zu betonen, was Mediziner- die ja manchmal "auch nichts vom UTS wissen" von medizinischen Laien unterscheidet. Wenn man einem Mediziner ein EKG vorlegt, sieht er, dass jemand ein verlängertes QTc Intervall hat, und weiß welche Medikamente dann vermieden werden sollten, auch wenn ihm nicht unbedingt bewusst sein muss, dass die Qtc- Zeit- Verlängerung mit dem UTS zusammenhängen kann. Er weiß über alle die möglichen Probleme sehr gut Bescheid, die in sein Fachgebiet fallen- und UTS oder nicht, Diabetes, Bluthochdruck, Hashimoto Thyroiditis sind schließlich alles andere als selten. Man kann das UTS jedem, der ein Medizinstudium hinter sich gebracht hat, auch auf eine ganz andere Art und Weise erklären, mit präzisen Fachtermini, und der Gegenüber hat innerhalb kürzester Zeit ein echtes Verständnis von der jeweiligen Diagnose. Nein, man braucht nicht unbedingt einen Arzt, der bereits alles zum UTS weiß, sondern im Idealfall einen, der bereit ist zu lernen. So war auch mein Eindruck von meinem ersten Termin in der Allgemeinarztpraxis insgesamt positiv, die Ärztin war sympathisch, alles andere als überheblich, neugierig. Und selbstverständlich kann sie mir in vielerlei Hinsicht helfen.
Das Ziel dieses Textes ist es also keinesfalls, Ärzten, und gerade jungen Ärzten, ihre "Unwissenheit" bezüglich des UTS anzukreiden. Das teils fehlende Wissen zum UTS in medizinischen Fachkreisen ganz allgemein verwundert mich jedoch schon manchmal. Schließlich reden wir hier von einer Diagnose, die in Schwangerschaften häufiger ist, als die Mukoviszidose (1:2500, aber natürlich bei Jungen wie auch Mädchen), vermutlich häufiger als die Trisomie 21 (1:600). Und man trifft kaum einen medizinischen Laien, der nicht zumindest eine grobe Vorstellung von diesen Krankheitsbildern hat, viel weniger noch einen Mediziner. Wir sprechen von der womöglich häufigsten genetischen Ursache früher Fehlgeburten, der wahrscheinlich zweithäufigsten Ursache für Abtreibungen (abgesehen von ungewollten Schwangerschaften). Und selbst in jedem Biologiebuch der Oberstufe findet man eine Erwähnung des UTS, als eine von nur sechs in lebenden Menschen anzutreffenden Chromosomenaneuploidien. Als die einzige lebensfähige Monosomie des Menschen. Übrigens wird in besagten Biologiebüchern- mittlerweile- sogar ein durchaus "positives" Bild des UTS gezeichnet.
Dass ein tiefergehendes Wissen zum UTS jedoch unter Ärzten keine Selbstverständlichkeit ist, lädt uns als Betroffenen oder unseren Eltern eine immense Verantwortung auf. Mein Fall, meine Erklärung des UTS wird für immer mit bestimmen, wie diese Ärztin die Diagnose UTS für sich einordnet. Ich bin selbst verantwortlich dafür, wichtige von vielleicht unnötigen Vorsorgeuntersuchungen zu unterscheiden- denn plötzlich bin ich die im Raum, die das womöglich am Besten beurteilen kann. Und ich muss Selbstschutz betreiben, mehr noch, als andere Patienten. An dieser Stelle kann ich nur dankbar dafür sein, dass ich in dieser Hinsicht eine gute Ausgangslage habe, und in der Position bin, diesen Anforderungen gerecht werden zu können.
Noch deutlich gefährlicher sind natürlich Fälle, in denen Humangenetiker und Gynäkologen, also die Fachleute, die Schwangeren die Diagnose für ihr ungeborenes Kind stellen, im Bezug auf das UTS vollkommen falsch informiert sind. Sicherlich, hoffentlich, handelt es sich hierbei um Ausnahmefälle, aber von denen liest man eben doch immer wieder.
Was kann man also tun?
Sich selbst informieren, zu allem, was man hat und was in Zukunft noch passieren könnte, sich die entsprechenden medizinischen Fachtermini aneignen, Fragen stellen, mitentscheiden. Und wann immer möglich korrekte Informationen zum UTS an medizinisches Fachpersonal weitergeben, gute Ressourcen hierfür sind die deutsche Turner Syndrom Vereinigung, und in Grenzen auch die TSSUS, hier vor allem die "Clinical practice guidelines for the care of girls and women with Turner syndrome" (8fb9de_905ef4f4146a487a9f7031a319b85fe2.pdf (filesusr.com)) die man, wenn man in das Thema eingelesen ist, durchaus auch als zum UTS informierter Laie gut verstehen kann. (Das Hilfreichste Video zum UTS wird für mich übrigens immer Folgendes bleiben: Natural history of Turner syndrome: Experience from 40 years of dedicated clinic - YouTube). Mehr kann man dazu wohl nicht sagen, als Einzelperson sind einem da ab einem bestimmten Punkt die Hände gebunden. Was bleibt, ist Frustration.
Ich gehe mit Überweisungen in der Tasche nach Hause, rufe zwei Ärzte an, hänge eine Viertelstunde lang in der Warteschleife, vereinbare ins Blaue hinein zwei Termine für in einem halben Jahr. Die Physikvorlesung werde ich wohl heute Nachmittag noch nacharbeiten müssen. Zum ersten Mal verstehe ich wirklich, dass schon die Arzttermine alleine, selbst ohne irgendwelche gesundheitlichen Probleme, jemanden mit dem UTS durchaus vor organisatorische Herausforderungen stellen können. Jetzt erst werfe ich auch einen genaueren Blick auf die Überweisungen, und schüttle leicht den Kopf. Auf dem einen Formular muss ich lesen: "Echo, gegebenenfalls MRT bei vor allem Aortendilatation". Nein, ich habe (noch) keine bekannte Aortendilatation, und werde sicherlich wieder einiges erklären müssen. So ist das, wenn man für sich und seine Gesundheit selbst verantwortlich ist.
Aber solange man das nötige Wissen hat, um für sich selbst eintreten zu können- und solange man, dankenswerterweise, kein schwerwiegenderes Problem hat- ist das alles halb so wild.
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